Abenteuerliche Suche: Erbgut einer Frau aus Werdohl wohl verschwunden

2022-07-02 09:46:41 By : Mr. Julian Pang

Wenn das Persönlichste und Wichtigste, was einen Menschen ausmacht, verloren gegangen scheint, kann man große Sorge hegen. So ein Verlust ist in diesen Tagen der Werdohlerin Nuray Erdogan bewusst geworden.

Sie hatte sich 2004 unmittelbar nach der Geburt ihres dritten Kindes in der Werdohler Stadtklinik von ihrem Geburtshelfer Dr. Panagiotis Kourtis Nabelschnurblut abnehmen und bei der damaligen Kölner Firma Cryo-Care für 20 Jahre einfrieren lassen. Das Blut und die darin enthaltenen Stammzellen scheinen verschwunden, das Unternehmen Cryo-Care existiert nicht mehr. Die Spur der Suche nach dem Erbgut von 250 000 ähnlich wie Erdogan betroffenen Müttern führt nach Polen.

Nuray Erdogan vom Bremfeld hat noch alle Unterlagen von damals bereitliegen. Für ihr Erbgut interessiert sie sich jetzt wieder, weil der 18. Geburtstag ihres Sohnes vor der Tür steht. In ihrer Erinnerung sollte das damals entnommene Nabelschnurblut 18 Jahre lang aufbewahrt werden – tatsächlich weist der inzwischen nutzlose Vertrag eine Einfrierzeit von 20 Jahren aus. Sie und ihr Mann hätten sich damals für die Entnahme von Nabelschnurblut entschieden, weil sie in der Praxis von Dr. Kourtis darauf aufmerksam gemacht wurden.

„Ich bin durch Werbung, die in der Praxis auslag, auf diese Möglichkeit der Gesundheitsvorsorge aufmerksam geworden“, sagt sie heute. Versprochen habe sie sich von der Aufbewahrung der Stammzellen eine Absicherung gegen lebensbedrohende Krankheiten. Falls zum Beispiel Knochenkrebs in ihrer Familie auftrete, so erinnert sie sich an die damaligen Versprechungen, könne man mithilfe des eingefrorenen Erbgutes gegen die Krankheit vorgehen. „Mein Gott, warum nicht?“, denkt sie heute, „wir konnten uns das damals leisten und haben auf die zukünftige Forschung vertraut.“ Es war ihr drittes und letztes Kind, die Familie wollte etwas für dessen zukünftige Gesundheit tun.

995 Euro kostete die Aufbewahrung über 20 Jahre bei Cryo-Care in Köln. Weitere 365 Euro bekam Dr. Kourtis für seine ärztlichen Leistungen, also die Entnahme des Blutes aus der Nabelschnur direkt nach der Geburt und die Bereitstellung für den Transport. Ein ausführliches ärztliches Gespräch habe dazugehört.

Auf mehrfache Nachfrage der Redaktion äußerte sich der noch in Werdohl praktizierende Dr. Kourtis nicht. Wir wollten wissen, was er vom privaten Einfrieren von Nabelschnurblut hält und ob er weiterhin bei Patientinnen für dieses relativ teure Angebot wirbt.

Glücklicherweise sei ihre Familie vor schweren Krankheiten verschont geblieben, erzählt Erdogan weiter, der Gedanke an die vermeintlich in Köln liegende Probe geriet in Vergessenheit. Vor ein paar Tagen fielen der Frau die Verträge von damals in die Hände und sie machte sich an die Recherche. Nach allem, was sie jetzt weiß, fühlt sie sich betrogen. „Es geht mir nicht um die 1400 Euro von damals. Aber ich will wissen, wo meine Stammzellen und mein Erbgut sind.“

Nabelschnurblut ist wertvoll, selten und interessant für die Forschung. So ist auch ein krimineller Missbrauch denkbar – ein beunruhigender Gedanke, wenn es um die eigenen Stammzellen, das eigene Erbgut geht. Erdogan will deshalb ihr Blut zurück: „Ich möchte meine Stammzellen zurückhaben, sie überprüfen lassen, ob es auch wirklich meine sind und sie dann vernichten lassen.“

Eine gewisse Verantwortung sieht sie auch bei ihrem damaligen Gynäkologen und Geburtshelfer Dr. Kourtis. „Er hätte mich besser aufklären können. Der Arzt ist doch verantwortlich für die Leistungen, die er in seiner Praxis erbringt.“ Bestimmt, so überlegt Nuray Erdogan, gebe es weitere Mütter aus Werdohl und Umgebung, die aus Fürsorge für ihre Familie sich haben Nabelschnurblut entnehmen lassen. Vielleicht könne man sich zusammentun und gemeinsam etwas ausrichten, so Erdogan.

Recherchearbeit dieser Redaktion hat ergeben, dass es für Erdogan und mehrere 100 000 Kundinnen von ehemals Cryo-Care heute ein kostenpflichtiges Angebot zu geben scheint, ihr Nabelschnurblut ausfindig zu machen und bestimmen zu lassen. Die Weg der in Köln tiefgefrorenen Proben lässt sich nachvollziehen: Die Cryo-Care in Köln ist im Juli 2009 mit Cryo-Save in Aachen verschmolzen. Die Muttergesellschaft Cryo-Save AG war ein Unternehmen mit Sitz in Pfäffikon in der Schweiz. Cryo-Save ging mitsamt der Nabelschnurblutbank Ende 2019 in die Insolvenz. Wie mehrere Schweizer Zeitungen berichteten, waren die Umstände dieser Insolvenz umstritten, der damalige Geschäftsführer kam wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Transplantationsgesetz kurz in Untersuchungshaft.

Nabelschnurblut ist sehr gefragt, da es Stammzellen enthält, die für die Forschung und zur Behandlung schwerer Erkrankungen eingesetzt werden können. Ähnlich wie embryonale Stammzellen sind jene aus dem Nabelschnurblut noch flexibel und undifferenziert, sie können zu verschiedenen Zelltypen heranreifen und unterschiedliche Organe oder Gewebe ausbilden. Hier tun sich Chancen auf wie bei der Forschung mit Stammzellen aus menschlichen Embryonen, ohne dass aber moralische Bedenken nötig wären. Nabelschnurblut kann sehr einfach entnommen und aufbewahrt werden.

„Für die Aufbewahrung von Nabelschnur-Präparaten zur späteren Eigenbehandlung ist zurzeit keine medizinische Indikation bekannt. Sie ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht notwendig“, schrieb die Bundesärztekammer im Jahre 2020. Deshalb gibt es neben der kostenpflichten privaten Einlagerung von Nabelschnurblut die Möglichkeit, kostenfrei Nabelschnurblut zu spenden. Das Stammzellpräparat aus Nabelschnurblut wird anonym beim Zentralen Knochenmarkspender-Register Deutschland (ZKRD) in Ulm registriert und steht für die Behandlung von Patienten weltweit zur Verfügung.

Beim ZRKD heißt es: Ein privates Einfrieren der Stammzellen für den Eigenbedarf sei hinsichtlich der Behandlung von Leukämie nicht nötig. Blutkrebs werde ausschließlich mit körperfremden Zellen behandelt, die von den öffentlichen Stammzellbanken durch kostenlose Spenden bereitgestellt werden.

Kundendaten und Blutpräparate gehören seit der zweiten Jahreshälfte 2019 der CSG-Bio. Dieses Unternehmen hat zwei Firmensitze: Für die europäischen Kunden ist die Firma CellSave US in Scottsdale, Arizona, USA zuständig. Die Firma CellSave Arabia in Dubai, Vereinigte Arabische Emirate, ist Partner für die Kunden aus dem Nahen Osten.

Die eingefrorenen Stammzellen der früheren europäischen Kunden von Cryo-Care beziehungsweise Cryo-Save dürften in einer polnischen Blutbank in Warschau liegen. Diese und andere Blutbanken firmieren unter dem Namen PBKM FamiCord. Seit September 2020 arbeitet das bayrische Unternehmen Eticur mit FamiCord zusammen. Eticur betreibt zudem ein eigenes Geschäft mit dem Einfrieren von Nabelschnurblut und teilt mit: „FamiCord ist die größte private Stammzellbank Europas und die viertgrößte weltweit. Aktuell werden dort mehr als 500 000 Stammzellpräparate für mehr als 300 000 Familien aufbewahrt.“

FamiCord transportierte nach eigenen Angaben im Rahmen „des größten Stammzellen-Transfers der Geschichte 99 Prozent der Proben in fast 60 Kryo-Tanks“ von ehemals Cryo-Save in ein Labor in Warschau. Ein Großteil des Bestands befinde sich in einem guten Zustand, hieß es 2020. Einer dieser etwa 60 Tanks konnte nicht aufgespürt werden, er sollte sich vermutlich in den Niederlanden befinden.

Kontaktadresse: Wer zu den Gläubigern der Pleite von Cryo-Care gehört, kann bei FamiCord Schweiz unter diesem Link nach dem Zustand und der Existenz seines gelagerten Erbmaterials fahnden: https://client.famicordcryobank.ch/de/client/km/step-1. Die Angebote dort sind kostenpflichtig.