Erinnerung - Mit Frechheit gegen die Angst - Wiener Zeitung Online

2022-09-10 09:48:29 By : Ms. Shelly Cui

Wie lebt man weiter nach Vertreibung und Gewalt? In seinem neuen Buch erzählt Ralf Rothmann von den Traumata seiner Mutter.

"Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt." Mit diesem bedeutungsvollen Satz leitete Ralf Rothmann vor sieben Jahren seinen in 25 Sprachen übersetzten Roman "Im Frühling sterben" ein, der den Auftakt zur nun beendeten Romantrilogie über das wenig freudvolle Leben seiner Eltern setzte.

Ganz behutsam hat sich der große Erinnerungskünstler Rothmann nun dem Leben seiner Mutter genähert, dem einstigen Landarbeiterkind Elisabeth, das am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Danzig geflohen und auf dem Weg nach Westen brutalst vergewaltigt worden war.

Was machen Flucht, Vertreibung und erlittene Gewalt aus einem jungen Menschen? Bleibt er auf ewig traumatisiert? Gibt es überhaupt die Chance auf einen Neuanfang? Rothmann schickt sein Alter Ego Wolf zu Luisa Norff, einer guten Freundin der inzwischen verstorbenen Eltern, die wir aus "Der Gott jenes Sommers" (2018) bereits kennen und von der wir wissen, dass sie als Jugendliche dreimal "Vom Winde verweht" gelesen hat.

Die junge Elisabeth versucht ihre Traumata durch ein Übermaß an Zerstreuung, an Amüsement und Affären zu kompensieren. Den Schmerz durch gespielte Ausgelassenheit betäuben - so schien sich Elisabeth ihr unglückliches Leben arrangiert zu haben.

Roman. Suhrkamp, Berlin 2022, 304 Seiten, 24,70 Euro.

Sie heiratet, und es folgt ein Leben, das geprägt ist vom Verschweigen der Vergangenheit. Wolfs Eltern sind mehr Zweckgemeinschaft als inniges Paar, sie versorgen einander, ohne sich wirklich zu verstehen. Elisabeths permanente Unzufriedenheit (und wahrscheinlich auch das erlittene körperliche Leid) sucht sich ein Ventil in Gewaltexzessen gegen die eigenen Kinder: "In der Kindheit prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der Sonntagshose, um verschüttete Milch. Jede Lappalie war ihr willkommener Anlass."

Ralf Rothmann, der im kommenden Mai seinen 70. Geburtstag feiert, hat sich in all seinen Romanen immer auch am eigenen Leben abgearbeitet. Seine Bücher über Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet sind in all ihrer Düsternis präzise Milieustudien aus einer Zeit, als zwischen Dortmund und Duisburg die Schornsteine noch rauchten; ähnlich ist es um die Berlin-Romane bestellt.

Nie hat sich Rothmann selbst stilisiert, nie hat er verbalen Zuckerguss über seine Figuren ausgeschüttet. "Meine Zeit im Kohlenpott, die fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, hatte etwas Traumatisierendes für das scheue und verträumte Kind, das ich war", erklärte er kürzlich in einem Interview.

Nun schließt sich der erzählerische Kreis bei der Traumabewältigung. "Sie täuschte sich mit Frechheit über ihre Angst hinweg", heißt es über die junge Elisabeth. Rothmann selbst befindet sich in einem offensichtlich unendlichen literarischen Selbstbefreiungsprozess. Schreiben gegen das Vergessen und gegen den Schmerz - ohne Hass, ohne Zorn.

"Die Nacht unterm Schnee" liefert trotz all der Bitternis zwischen den Zeilen auch versöhnliche Töne. Angesichts dessen, was momentan in Osteuropa geschieht, sind Rothmanns Bücher aktueller denn je. Sie sollten Pflichtlektüre im Schulunterricht werden.