Künstlerin Louise Bourgeois in Berlin: Spinnen und Spulen gegen den Stress des Daseins

2022-09-24 11:26:20 By : Mr. Link Chan

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Spinnenartiges gehört zur Privatmythologie: Louise Bourgeois’ „Spider“ von 1997. Bild: The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Nähen ist nicht harmlos: Im Gropius Bau ist das textile Spätwerk der Bildhauerin Louise Bourgeois zu erleben, einer großen Suchenden nach der verlorenen Zeit.

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W ie viele Erinnerungen in einem Stück Stoff stecken können, weiß jeder, der vergeblich versucht hat, seinen Kleiderschrank auf den neuesten Stand zu bringen. Die 1911 in Paris geborene Louise Bourgeois verglich Kleidung mit einem Tagebuch oder einer „zweiten Haut“. Aber auch von Bettwäsche und Tapisserien schien sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Schaffens, in denen sie kaum noch aus ihrem New Yorker Studio ging, nicht trennen zu können. Jeder Fetzen, selbst ein Geschirrtuch, eignete sich als Material eines autobiographisch aufgeladenen Objekts. Die über Achtzigjährige, kreativ wie nie zuvor, hortete ihre Kinderkleidung ebenso wie die Wäsche ihrer Mutter. Kein Stück war zu intim, um es nicht verarbeiten zu können. Dann ließen die inneren Spannungen nach, beim Reißen, Schneiden, Spulen und neu Zusammennähen.

Anfangs überstickte sie noch Genitalien 

Vielleicht stieß die selbst verordnete Therapie auf so fruchtbaren Boden, weil Bourgeois selbst in einer Familie aufgewachsen ist, die mit dem Verkaufen und Restaurieren von historischen Wandteppichen Geld verdiente. Dazu gehörte auch schon mal, allzu freizügige Darstellungen von Geschlechtsteilen mit harmlosen Motiven zu überdecken. Ein „Ausbessern“, das sich auch als Prüderie oder freudianisches Verdrängen lesen lässt. Für die spätere Künstlerin kam diese Praxis nicht infrage. Sie scheute kein Tabu und stülpte ihr Inneres nach außen. Und weil mit Dämonen zu rechnen war, wählte sie sicherheitshalber Zellen und Käfige als Ablageort. Hier konnte sie ihre Wut über den Vater, der seine Geliebte als Gouvernante angestellt hatte, und die Mutter, die diesen Affront duldete, bannen.

In der Ausstellung „Woven Child“ des Berliner Gropius Baus herrscht in den seit 1991 entstehenden kammerartigen Installationen unter dem Titel „Cells“ auf den ersten Blick eine penible Ordnung. Die „Cell VII“ (1998), eine Art Holz-Zelle, in die man hineinschaut wie durch ein unsichtbares Schlüsselloch, beinhaltet weiße Kleider von Mutter, der Gobelin-Restauratorin, und Tochter, eine Bronze-Spinne und die Miniatur ihres Elternhauses. „Jede Cell erzählt von Angst“, erklärte einmal Bourgeois, „Angst ist Schmerz.“ Die Kleider hängen in dieser Erinnerungskapsel auf Rinderknochen, wie Stellvertreter abwesender Personen.

Das tun sie auch auf den „pole pieces“, einer Werkgruppe aus Kleiderstangen mit baumähnlichen Ästen. Die hier gehängten Negligés, Paillettenkleider und vergilbten Seidenblusen füllen wieder das Vakuum einer verschwundenen Generation, das sich nicht abschütteln lässt, nur reparieren, mit einer Nähnadel. „Sie ist niemals aggressiv, sie ist keine Stecknadel“, so Bourgeois. In der Notiz, die sie in den Sockel eines der „pole pieces“ eingeschweißt hat, fasst sie in einem Wortspiel ihr ambivalentes Verhältnis zu der Vergangenheit zusammen: „Seam­stress, Mistress, Distress, Stress“.

Umso mehr überrascht die Gewalt, die sie in die „Cell XXV (Der Blick auf die Welt der eifersüchtigen Ehefrau)“ (2001) einfließen ließ. Drei kopflose Schneiderpuppen hängen in dem narrativen Drama in ihren eigenen Kleidern in einem Käfig aus Stahl, in Gesellschaft von blauen Glastränen und zwei weißen phallischen Marmorkugeln auf dem Boden. „High Heels“ (1998) wiederum kommentiert, nicht ohne Humor, in einer aus Kleiderfragmenten collagierten, unterwürfig hingestreckten Figur mit stacheligen Metallschuhen erbarmungslos Liebesverhältnisse, die zwischen Sadismus und Masochismus oszillieren.

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Künstlerin Bourgeois in Berlin

Nähen ist nicht harmlos: Im Gropius Bau ist das textile Spätwerk der Bildhauerin Louise Bourgeois zu erleben, einer großen Suchenden nach der verlorenen Zeit.

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